© Sophie Schäfer

Fremde bei mir aufnehmen... Will ich das? -- Ein Erfahrungsbericht als Entscheidungshilfe.

Mon, 18 Apr 2022 13:50:19 +0000 von Schulpastorin und Notfallseelsorgerin Sophie Schäfer

Geflüchtete kommen nach Deutschland. Der Wohnungsmarkt ist in Städten quasi nicht vorhanden. Man solle sich keine Hoffnung machen, eine Wohnung für Geflüchtete zu finden. Na toll. Und nu? Wie wärs, Fremde bei sich aufzunehmen?
 
Ich muss sagen: Es ist ein Abenteuer, das den eigenen Horizont zweifelsohne erweitert. Es kann zu Freude, Frust oder beidem führen. Ich glaube, es ist wichtig, manches zu wissen, um nicht blind in einen Haufen von Problemen zu rennen.

Vorneweg: Es braucht auch Zeit. Ich vermute, dass Fremde "einfach" bei der deutschen Familie wohnen, trifft in den wenigsten Fällen zu. Es braucht Zeit und Engagement für gemeinsame Behördengänge und Stadterkundungen, damit sich die Gäste auf die neue Umgebung einlassen können, damit Formalia geklärt werden und so etwas wie Selbständigkeit z.B. auch im Umgang mit dem öffentlichen Nahververkehr möglich wird.

Die eigene Küche und das eigene Bad mit Fremden zu teilen, ist vermutlich für viele Menschen – beide Parteien – wenig ideal. Wer einen Fremden aufnimmt, hat idealerweise genug Platz um sich komplett abgrenzen zu können, sodass manche unterschiedlichen Gewohnheiten nicht miteinander in Konflikt geraten (können). Und hat idealerweise die Fähigkeit mit dem fremden Gast durch eine gemeinsame Sprache zu kommunizieren. Das vermeidet Spannungen. Warum?

Probleme können ganz unterschiedliche Gründe haben.

Unterschiedliche Prioritäten und Lebensrhythmen – der eine geht ins Bett, wenn der andere zu kochen anfängt. Beides ist wichtig: Am späten Abend kochen, am späten Abend schlafen. Das Problem für die, die schlafen wollen: Das ganze Haus riecht intensiv nach Essen. Das Problem für den, der kochen will: Versuchen müssen nicht zu laut zu sein. So kann es passieren, dass beide sich ggf in ihren Gewohnheiten irgendwie eingeschränkt fühlen.

Unterschiedliche Lebensgewohnheiten und Sauberkeitsempfinden. Wischen, saugen, Müll rausbringen. Wann ist das aber überhaupt nötig oder wenigstens angebracht? Wie ist der Umgang mit Dingen im Haus? Hat das etwas mit Respekt und Wertschätzung zu tun? Oder ist das eine pingelige Überhöhung von Dingen? Klebrige Böden, Flecken auf dem Teppich, bemalte Wände, Böden und Karten… Ein schimmliges Bad, weil das Lüften zu kalt sei... Das Empfinden im Hinblick auf Sauberkeit und „Unbeschädigtheit“ von Dingen kann sehr weit auseinandergehen, und der Sensiblere leidet mehr. Gleiches gilt für die Frage nach der Beurteilung von „laut“ und „leise“: Sind Familienmitglieder im Home Office und auf konzentrationsdienliche Ruhe angewiesen? Bei Gästen mit kleinen Kindern kann auch das zu Schwierigkeiten führen.

Unterschiedliche Ideale. Der eine legt Wert auf Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit, Kooperation. Der andere hat vielleicht andere Ideale: Spontaneität, Freiheit, Unbeschwertheit in all der Schwere, die es sowieso gibt. Beides ist verständlich, passt aber nicht immer gut zusammen. 

Unterschiedliche Kulturen. Wer unfreiwillig hier herkommt, weiß erstmal nichts von dem, was hier im Land, geschweige denn, was in der Familie wichtig ist, oder wie es funktioniert. Und wahrhaftig: Es ist auch nicht unbedingt leicht, den eigenen Standpunkt verständlich zu machen, wenn man folgendes Problem bewältigen muss: 

Unterschiedliche Sprachen. Wenn es keine gemeinsame Sprache gibt, ist Verständigung sehr schwer. Denn auch mit Google sind die Grenzen der Sprachfähigkeit sehr eng. Ich kann nicht überprüfen, wie das, was ich sage, in der Zielsprache wirkt. Ob die von Google gewählten Worte tatsächliche Äquivalente sind für das, was ich sagen will. Ich kann in keiner Weise nachvollziehen, was genau bei meinem Gegenüber angekommen ist. Der Andere sagt vielleicht „ja“, aber die kurze Antwort verbirgt eventuell nur ein Missverständnis.

Führt die Sprachbarriere zur Vermeidung der Kommunikation, kann das Zusammenleben regelrecht unangenehm werden. Es ist Arbeit, trotz allem am Ball zu bleiben und das Verhältnis zu stabilisieren. Warum?

Sie leben auf engem Raum zusammen. Vielleicht gibt es ein Verhalten, das Sie persönlich triggert, sofort auf die Palme bringt. Vielleicht gehört aber eben diese Eigenschaft zur Persönlichkeit des Gastes. Um damit umgehen zu können, ist massive Arbeit an sich selbst notwendig. Die Frage ist, wie beide Parteien damit umgehen (wollen). Sind beide kompromissbereit? Was könnten Kompromisse sein? Wie sehr tangiert es mich, wenn Kompromisse nicht funktionieren? Bin ich zu Hause unglücklich? Ist mein Gast unglücklich?

Entscheiden sich beide Parteien, weiterzuarbeiten, kann es für den Gastgeber nötig werden, sich von eigenen Idealen für eine Weile loszusagen und zu akzeptieren, dass sie für die Zeit des Zusammenlebens einfach nicht aufrechterhaltbar sind. 

Wer das schafft, springt über seinen eigenen Schatten. Aber es bleibt die nur individuell beantwortbare Frage nach dem Preis dafür.

Tatsächlich hat das Experiment auch einen finanziellen Preis. Es ist klar, dass es in der ersten Zeit besonders viele finanzielle Mehrausgaben gibt. Selbst wenn man sich Kosten erstatten lässt, gehe ich momentan davon aus, dass die Ausgaben deutlich höher sind. Das kann ein Stressfaktor werden.

Und vielleicht ist gar keine theoretische Vorbereitung dienlich genug. Denn auf die tatsächliche Konstellation und Dynamik im Haus kann man sich im Voraus nicht vorbereiten. Dass Theorie nicht reicht, weiß jeder, der den Führerschein macht / gemacht hat. Niemand würde / hätte ihn ohne Praxisstunden bekommen.

Je größer der geteilte Raum, desto entspannter kann das geteilte Leben weitergehen. Aber selbst auf engem Raum kann das geteilte Leben funktionieren, denn auch die sozialen, beruflichen, bildungsbezogenen Hintergründe der Geflüchteten sind sehr unterschiedlich. Alles, was ich erwähnt habe, kann passieren, nichts davon muss zutreffen. In jedem Fall glaube ich, dass eine von Anfang an festgesetzte zeitliche Begrenzung des Aufenthalts von Gästen (z.B. vier Wochen) die Spannung von beiden Seiten nehmen kann.

Insgesamt ist es - denke ich - eine große Bereicherung für Menschen, die nicht davor zurückschrecken, Zeit und Geld zu investieren und eine Menge Arbeit an sich selbst zu leisten.
Quelle: Sophie Schäfer
Ausblick vom Wohlführort oder Sehnsucht nach woanders?
Kommentare

Bitte melde Dich an, um einen Kommentar zu schreiben...

Bestätigen

Bist du sicher?