wie versprochen habe ich die Protokolle der letzten drei Sitzungen abgetippt. Auch unsere improvisierte, spontane Stunde über Sterbewillige hat mir Freude gemacht, ich arbeite sehr gerne mit Euch zusammen. Danke dafür.
Das Wurzelwerk des Baumes ist (vermutlich) von Ratten zerfressen, die drei trockenen vergangenen Jahre haben ihm den Rest gegeben. Der Baum wird von Jahr zu Jahr kränker, aber er bildet immer noch Blätter und betreibt immer noch - so gut er kann - Photosynthese.
Ich sehe eine besondere Schönheit in Menschen, die ihr eigenes Leben bejahen können so lange es währt. Und die ihe Leben loslassen können, wenn es zu Ende geht. Eine lebensbejahende Kraft, die nicht klammert, sondern dankt und genießt, das Geschenk annimmt, so lange es dauert. Darin liegt Kraft und Weisheit und ich sehe darin große Schönheit.
Für mich strahlen Menschen Schönheit aus, die trotz negativer Erfahrungen nicht verbittern, sondern an sich selbst arbeiten, um der Welt wieder begegnen zu können. Ich finde Menschen schön, die frei sind von Hassgefühlen.
An unsere erste Begegnung erinnere ich mich sehr gut. Ich sollte beschreiben, was ich fühlte, sah aber nichts. Ich sprach von einem dilettantisch verschliffenen Backenzahn mit runder Kaufläche. Das war vor 20 Jahren im Kunstunterricht. Hätte ich damals gewusst, welch großes Unrecht ich der Venus von Willendorf damit antue.
Die Figur ist etwa 30 000 Jahre alt und wurde vor gut 100 Jahren in Willendorf gefunden, deshalb heißt die Figur so. Anfangs fand ich sie nicht besonders schön. Mittlerweile habe ich sie sehr ins Herz geschlossen.
Ich bewege im Herzen, dass diese Rundungen vor 30 000 Jahren wohl das Non-Plus-Ultra in Sachen Schönheit waren. Damals gab es ja auch noch keine Schokolade, und es ist vermutlich nicht leicht, so viel Gewicht zu gewinnen, wenn man sich von Beeren und Tieren ernährt.
Wie auch immer. Wichtig war das, was als weiblich galt. Das wurde überdeutlich dargestellt. Die Brüste, Hüfte, Schamlippen waren wichtig, Arme, Gesicht oder Füße dagegen gar nicht.
Dagegen gestellt habe ich eine (recht kunstfreie) moderne Figur. Sie ist relativ naturalistisch dargestellt und eher hoch gewachsen und schlank. Äußere Genitalien hat sie leider gar nicht. Was damals als besonders weiblich (und schön) galt, wurde "eingeebnet", eine Fläche anstelle von Schamlippen.
Wenn ich die beiden Figuren vergleiche, ist mir die kleine Venus viel lieber. Sie ist etwas Besonderes, weil sie mich daran erinnert, wie flüchtig "modische" Schönheitsideale sind. Was gerade als "schön" bezeichnet wird, ist wackelig genug, um sich regelmäßig ändern zu müssen: In besonderem Maße mag diese Zukunftslosigkeit auf Haute Couture zutreffen. Aber sogar Körper von Menschen bleiben vor bestimmten Schönheitsvorstellungen nicht verschont. Dünn oder dick, lange Haare oder kurze, hell oder dunkel, große Brüste oder kleine etc. Die Ideale ändern sich, doch diese Vielzahl an Formen wird es immer geben.
Mein Fazit hier gilt also auch für Menschen: Schön ist alles, was man mit wohlwollenden Augen betrachtet. Und für mich sind es mittlerweile besonders die kleinen Makel, die Schwächen, die Asymmetrien, die einen Menschen wirklich "schön" machen. Liebe vermag Menschen, unabhängig von ihrem Aussehen, Schönheit zu verleihen.
Da die Anzahl der Rückmeldungen in der Kommentarspalte auch jetzt noch eher übersichtlich ist, schreibe nun ich darüber, was ich über Schönheit denke.
Natürlich lässt sich Schönheit auf alles Mögliche beziehen und natürlich kann man einfach in einem Lexikon nach „Schönheit“ oder „Ästhetik“, „weichem Stil“ oder „schönen Madonnen“ schauen. Das ist aber langweilig.
Ich finde die individuellen Erfahrungen viel spannender. Hier schreibe ich über das, was ich aus meinen Erfahrungen heraus als „Schönheit“ definieren würde. Der Einfachheit halber beziehe ich mich mit „Schönheit“ nur auf Menschen. Aber natürlich lässt sich auch in der Natur unendlich viel Schönheit entdecken, und auch Erfahrungen können, denke ich, voller Schönheit sein.
1. Gedanke
Das eine Foto zeigt eine weibliche Figur, den Kopf auf den Händen abstützt und den Kopf und Blick gesenkt hält. Sie ist nackt, hat ein Bein angewinkelt, das andere Bein liegt angewinkelt auf dem Boden. Würde ich diese Position deuten, würde ich denken, dass die Frau ziemlich in sich versunken ist. Sie sucht keinen Blickkontakt, sie stützt ihren Kopf ab, hat eine raumsparende Pose eingenommen und schaut auch nicht besonders fröhlich aus, sondern eher ernst. Sie ist nackt und somit unverhüllt, schutzlos. Sie kann sich dem Blick des Anderen nicht entziehen, sie kann nichts verstecken, keine Fragen dem Blick des Anderen entgegensetzen. Je oberflächlicher der Blick des Anderen, desto verschlossener ihre Pose.
Diese Figur habe ich gestern aus Vogelperspektive fotografiert. Ich glaube, Schönheit erkennt nicht, wer aus Vogelperspektive auf andere blickt. Wer sich selbst über andere stellt, hat die Suche nach dem Anderen aufgegeben, erkennt weder sich, noch die Schönheit des Anderen. Ich glaube, um Schönheit zu erkennen braucht es eine Offenheit für die Fremdheit des Anderen, die Unterschiedenheit zum Selbst und eine neugierige Freude, sich auf diese Differenz einzulassen.